Die unendliche Geschichte

 

 

 

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Es war einmal im Jahre 1944, da luden ein Professor und eine Professorin – Fritz Heider und Marianne Simmel – eine Gruppe Studenten in ihr Labor ein und zeigten ihnen einen Kurzfilm. Der war nicht eben ein Blockbuster: Die Darsteller waren nur schwarze geometrische Figuren, die Szenerie ein simpler weißer Hintergrund. Eine Tonspur gab es nicht, und das Ganze dauerte keine zwei Minuten.

 

Und doch reichten die Bewegungen alleine, mit ihrem Timing und ihren Richtungen, für beinahe alle Zuschauer völlig aus, um darin eine Geschichte zu sehen: Starke Emotionen und spannende Action. Es ging um die Rivalität zweier Dreiecke (eines großen, aggressiven, und eines kleinen, aber tapferen), die die Liebe eines Kreises gewinnen wollten.

 

 

Urbedürfnis des Menschen

 

Das Experiment von Heider und Simmel bestätigte nur das, was wir alle aus unserer eigenen Erfahrung wissen: Geschichten zu erzählen, sie hören oder sehen oder lesen zu wollen ist ein Urbedürfnis des Menschen.

 

Wir füllen unsere Welt mit Leben, indem wir leblosen Dingen Emotionen und Absichten zuschreiben. Sobald kleine Kinder sprechen können, tun sie so, als ob ihre Spielzeuge eine Persönlichkeit haben, einander „jagen“ oder „sich befreunden“. Und diese kindliche Phantasie verlieren wir auch als Erwachsene nicht: Man hört Ingenieure sagen „Dieses Flugzeug will nach links abweichen“, oder gestandene Chemiker erklären „Sauerstoff bindet gern an andere Elemente“. Kein Wunder, dass wir die wissenschaftliche Arbeit auch als Disziplin bezeichnen  –  rein wissenschaftlich zu denken erfordert eine starke Selbstkontrolle und funktioniert nur, wenn wir unseren Instinkt fürs Geschichtenerzählen unterdrücken.

 

 

Warum sind Geschichten für uns so wichtig?

 

 

 

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Wenn Sie Wissenschaftler aus verschiedenen Fachrichtungen fragen, erhalten Sie ganz unterschiedliche Antworten, die einander dennoch ergänzen.

 

NEUROWISSENSCHAFTLICHER weisen darauf hin, dass unsere Sinne wesentlich mehr Daten generieren als unser Gehirn verarbeiten kann (das menschliche Auge überträgt dieselbe Bit-Rate wie eine Ethernet-Verbindung); also müssen wir eine Möglichkeit finden, Erfahrungen in irgendeiner Art von gut speicherbarem Algorithmus zusammenzufassen, auf den wir später zugreifen können.

 

PRIMATENFORSCHER fügen hinzu, dass wir Menschen zu einer Klasse von Säugetieren gehören, die  in Gruppen leben, gemeinsam Verantwortung für das Überleben Aller tragen und komplexe soziale Beziehungen entwickeln. Geschichten – also Klatsch – sind für uns ebenso wie für unsere Verwandten, die anderen Menschenaffen, eine Frage von Leben und Tod.


Fragen Sie einen PSYCHOPHARMAKOLOGEN, dann ist die Antwort sogar noch einfacher: Geschichten machen, dass wir uns lebendiger fühlen. In einer Studie, die 2009 in den Annals of the New York Academy of Science publiziert wurde, fasst der Ökonom  Paul Zack dies zusammen:

 

Ein trauriges, besorgniserregendes oder angsteinflößendes Ereignis, ob nun real oder fiktiv, löst einen Anstieg des Stresshormons CORTISOL in unserem Blut aus. Dieses Hormon erhöht die Aufmerksamkeit und macht uns bereit für Aktivität. 

 

Die weitere Entwicklung einer Geschichte, mit Vermutungen und Spekulationen über den logischen Zusammenhang der Ereignisse, stimuliert die Produktion von DOPAMIN, was mit dem angenehmen Gefühl assoziiert ist, wenn wir etwas lernen oder begreifen. 

 

Und schließlich triggert die wachsende Vertrautheit und Empathie mit den Protagonisten einer Geschichte – sogar dann, wenn es nur Dreiecke sind – die Ausschüttung von OXYTOCIN. Dieses „Hormon der Nähe“ fördert Zuwendung und soziales Verhalten.

 

 

Geschichten verändern Verhalten

 

Eine spannende Geschichte zu hören ist mehr als nur eine genussvolle Erfahrung, sondern bringt uns auch dazu, selbst etwas zu tun. Wir wissen auch, dass Menschen mit höheren Oxytocinspiegeln großzügiger sind, wenn es um Spenden an wohltätige Organisationen geht.

 

 

Unser Gehirn liebt Geschichten


Seien Sie also nicht überrascht, wenn Sie wieder einmal eine Werbung sehen, die ein Auto ausschließlich mit einer Geschichte anpreist. Sie erfahren nichts über das Auto, außer dass Sie, wenn Sie es kaufen, die ideale Partnerin fürs Leben treffen und eine wunderbare Familie haben werden. Unser Gehirn liebt solche Geschichten. Die Fakten können wir immer noch später recherchieren, aber in der Zwischenzeit:  Genießen Sie die Geschichte.

 


 

 

von Michael Kaplan, Edinburgh, UK